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Gericht nutzt Internet zur Recherche – zulässig?

BGH, Beschluss vom 27.01.2022 - III ZR 195/20

Möchte ein Gericht von ihm dem Internet entnommene Tatsachen als offenkundig seinem Urteil zugrunde legen, muss es den Parteien grundsätzlich die Möglichkeit zur Stellungnahme geben. Ein Hinweis kann nur dann unterbleiben, wenn es sich um Umstände handelt, die den Parteien ohne Weiteres gegenwärtig sind und von deren Entscheidungserheblichkeit sie wissen.

I. Sachverhalt

In seinem Beschluss vom 27.01.2022 beschäftigte der BGH sich mit der Frage, ob ein Zivilgericht im Zusammenhang mit einem bei ihm anhängigen Rechtsstreit im Internet recherchieren darf und, falls ja, unter welchen Voraussetzungen.

Der Kläger (Verbraucher) nahm die Beklagte (AUDI AG) wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung gemäß § 826 BGB in Anspruch.

Im streitgegenständlichen Fahrzeug des Klägers wurde ein Motor des Typs EA189 verbaut. Dieser wurde von der Konzernmutter der Beklagten (VW AG) entwickelt und hergestellt. Die Beklagte verteidigte sich damit, dass sie selbst den Motor nicht entwickelt/hergestellt habe und aufgrund dessen kein vorsätzliches Handeln ihrerseits vorläge.

Das OLG Zweibrücken bejahte einen Schadensersatzanspruch. Zur Begründung führte das Gericht u. a. die enge Konzernverbundenheit der Beklagten und der VW AG an, welche bereits aus dem Konzern-Organigramm der VW-AG erkennbar sein.

Das Gericht stellte hierzu fest, dass kein Zweifel daran bestehe, dass auch die Beklagte die notwendige Kenntnis von der Entwicklung der streitgegenständlichen, verbauten Umschaltautomatik gehabt hätte – welche auch bei ihr (AUDI AG) in großen Stückzahlen in Fahrzeugen verbaut wurde. Weiterhin begründete das Gericht seine Feststellung mit einer im Internet abrufbaren Pressemitteilung der Beklagten, in welcher diese nach der Verhängung eines Bußgeldes bekannt gab: „Die AUDI AG bekennt sich damit zu ihrer Verantwortung für die vorgefallenen Aufsichtspflichtverletzungen.“

Die Beklagte wendete sich vorliegend gegen diese Verurteilung.

II. § 291 ZPO

Problematisch an der Entscheidung erscheint, dass offenkundige Tatsachen bei Gericht gemäß § 291 ZPO keines Beweis bedürfen. Offenkundige Tatsachen sind solche, die dem Gericht bekannt („offenkundig“)  oder allgemein bekannt sind.

Im vorliegenden Fall hat das Gericht gerade nicht Beweis darüber erhoben, ob die Beklagte wusste, dass in ihren Fahrzeugen die unzulässige Abschalteinrichtung verbaut wurde, sondern diese Informationen aus dem Konzern-Organigramm der VW-AG sowie der Internet-Pressemitteilung der Beklagten entnommen und diese Tatsachen dabei als allgemeinkundig bewertet. Aufgrund dieser Tatsachen schloss das Gericht auf die Kenntnis der Beklagten bezüglich der Abschalteinrichtung und entschied, dass die Voraussetzungen des § 826 BGB bei der AUDI AG gegeben waren.

In Zivilprozessen gilt jedoch gerade nicht der sog. Amtsermittlungsgrundsatz sondern der Beibringungsgrundsatz – folglich haben die Parteien die Beweise vorzulegen und nicht das Gericht selbst. Somit ist bereits fraglich, ob das Gericht seine selbst gefundenen Tatsachen überhaupt seiner Entscheidung zugrunde legen durfte. Es stellt sich zudem die Frage, ob das Gericht dann nicht die Parteien hätte darauf hinweisen müssen, dass es die zuvor genannten Tatsachen bei der Entscheidungsfindung einbezogen hat.

III. BGH-Entscheidung

Der III. Zivilsenat hat das Urteil wegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufgehoben. Er stellte fest, dass zu den offenkundigen Tatsachen im Sinne von § 291 ZPO auch solche Tatsachen zählen, die das Gericht „dem Internet“ im Rahmen „seiner Ermittlungen“ entnehmen kann.

Der BGH stellte allerdings fest, dass ein Gericht die Ergebnisse seiner eigenen Internetrecherche zur Entscheidungsfindung nur dann verwerten darf, wenn es diese Tatsachen den Parteien zugänglich macht und ihnen einen Hinweis auf die Möglichkeit zur Stellungnahme erteilt. Ein solcher Hinweis könne nur dann unterbleiben, wenn es sich um Umstände handele, die den Parteien ohne Weiteres gegenwärtig sind und von deren Entscheidungserheblichkeit sie wissen. Als offenkundig im Sinne des § 291 ZPO gelten demnach alle Tatsachen, die das Gericht durch selbstständige Internet-Recherche/“Googlen“ erlangt hat. Eine Eingrenzung dieser Befugnis erfolgt lediglich durch die Hinweispflicht, welche dem Grundsatz auf rechtliches Gehört entstammt. 

Vorliegend wäre nach Ansicht des BGH somit ausreichend gewesen, wenn das Berufungsgericht der Beklagten (AUDI  AG) seine Rechercheergebnisse in Bezug auf das Konzernorganigramm und die Pressemitteilung mit einem entsprechenden Hinweis mitgeteilt und dieser somit die Möglichkeit zur Stellungnahme hierzu eingeräumt hätte. Bedenken gegen die eigenständige Recherche des Gerichts und die Verwertung deren Ergebnisse, hatte der BGH indes nicht.

© Juli 2022, Laura Kunz, Stefan Müller-Römer

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